Wie die Meeresbiologin zur Weinproduzentin wurde

Schon als kleines Mädchen wusste Rahel Salathé, dass sie die Natur erforschen und Meeresbiologin werden möchte. Später wurde die Familie wichtiger als die akademische Karriere. Heute widmet sich die 47-Jährige ihrer zweiten grossen Passion: der Produktion hochwertiger Weine. Sie versteht ihre Arbeit im Weinkeller als «Balanceakt zwischen Handwerk und Kunst».

Rahel Salathé

 

Rahel Salathé, wir treffen uns hier in Ihrem Weinkeller in Chigny über dem Genfersee und verkosten Ihren Chardonnay. Erinnern Sie sich noch, wann Sie zum ersten Mal Wein getrunken haben?

RAHEL SALATHE: Ja, das weiss ich noch ganz genau. Als ich 17-jährig war, brachte meine Mutter von einer Frankreich-Reise eine teure Flasche Rotwein mit nach Hause, entkorkte sie und schenkte uns beiden ein. Der erste Schluck war für mich wie eine Offenbarung: ein Feuerwerk in Nase und Mund, mir kam es vor, als würde ich flüssiges Gold trinken. Seit dieser ersten Begegnung mit einem Bordeaux fasziniert mich der Wein.

Haben Sie damals schon mit dem Gedanken gespielt, dereinst selber Wein zu keltern?

Nein, ich wusste schon im Primarschulalter, dass ich Meeresbiologin werden wollte. Als kleines Mädchen hatte ich viel Zeit mit meinem Grossvater im Wald verbracht – er war Jäger und kannte nicht nur alle Tierspuren, sondern auch viele Pflanzenarten. Bald züchtete ich Schnecken, siedelte Ameisenhaufen um und las alles über Forscher und Entdecker, was mir in die Hände kam. Ich bin in sehr instabilen Familienverhältnissen aufgewachsen, bin oft unfreiwillig umgezogen und habe mich entsprechend alleine gefühlt unter Menschen. Im Kontakt mit Pflanzen und Tieren war es mir bedeutend wohler, auf die Natur war Verlass.

Und dennoch ist Meeresbiologin kein alltägliches Berufsziel für jemanden, der in der Schweiz aufwächst.

Auch dieser Wunsch geht auf eine prägende Erfahrung zurück. Als ich zum ersten Mal mit meiner Mutter in Griechenland am Meer war, bekam ich einen Schnorchel und eine Taucherbrille – und wäre am liebsten nie mehr zurück an Land gekommen, so sehr habe ich es geliebt, mich treiben zu lassen und die Unterwasserwelt zu beobachten. Später sah ich die Filme des berühmten Meeresforschers Jacques-Yves Cousteau und wollte alles darüber erfahren, wie es Jacques Piccard gelungen war, mit einem selbst gebauten U-Boot auf eine Tiefe von fast 11‘000 Metern abzusinken. Für mich war klar: Ich musste im Gymnasium gute Noten erzielen, um später via ETH-Studium an einer ausländischen Universität eine Forschungsstelle in der Meeresbiologie zu bekommen.

Das ETH-Studium war für Sie ein Mittel zum Zweck?

Man hatte mir zu einem ETH-Abschluss geraten als Sprungbrett für die weitere akademische Karriere. Doch was als Zwischenstation gedacht war, wurde zur wohl besten Zeit meines Lebens. Ich war mindestens 45 Stunden pro Woche an der ETH und schrieb zuhause noch meine Berichte, aber es war kein Müssen, weil mich alles so brennend interessierte: die Ökologie, die Evolutionsbiologie, die Interaktionen zwischen verschiedenen Lebewesen, ja sogar wie die Maschinen funktionierten, die wir für unsere praktischen Experimente brauchten, wollte ich genau verstehen. Es war für mich beglückend zu merken, dass ich gut darin war, ein Problem wissenschaftlich zu analysieren und auf effiziente Art und Weise eine Lösung dafür zu finden. Ich war ganz in meinem Element und so voller Euphorie, dass ich eines Abends zu meinen Kollegen sagte: «Ihr werdet sehen, irgendwann gewinne ich den Nobelpreis.»

«Man hatte mir zu einem ETH-Abschluss geraten als Sprungbrett für die weitere akademische Karriere. Doch was als Zwischenstation gedacht war, wurde zur wohl besten Zeit meines Lebens.»
Rahel Salathé

Was ist Ihnen dazwischengekommen?

(Lacht) Das Leben in all seinen Facetten. Meine Diplomarbeit in Meeresbiologie verfasste ich in Roscoff, wo es mir gelang, bei der Untersuchung von küstennahen Nahrungsketten ein Forschungsparadigma zu widerlegen. Ich wäre gerne in der Bretagne geblieben, diese Ausrichtung an den Gezeiten und überhaupt die Naturverbundenheit der Menschen tat mir gut. Doch dann liess ich mich zu einer Rückkehr an die ETH überreden, wo man mir eine „Carte Blanche“ für ein Dissertationsprojekt gab. In dieser Zeit lernte ich Marcel kennen, der im selben Jahr wie ich seine Dissertation begonnen hatte. Er wollte für den Postdoc nach Stanford gehen, ich fand eine spannende Postdoc-Stelle in der Tiefseeforschung am Monterey Bay Acquarium Research Institute. Dort untersuchte ich Würmer, die symbiotisch auf toten Walknochen lebten – und entdeckte dabei zwei bisher unbeschriebene Arten.

Ab wann haben Sie ihre beruflichen Ambitionen zurückgestellt?

Als wir uns dann für die Gründung einer Familie entschieden, war mir klar, dass meine Karriere einstweilen keine Priorität mehr hatte. Ich hätte es nicht übers Herz gebracht, unsere Kinder von früh bis spät fremdbetreuen zu lassen, sondern wollte ihnen die Geborgenheit geben, die ich selber als Kind vermisst hatte. Ich fand immer wieder spannende Teilzeitstellen – etwa als ich für ein paar Jahre die Leitung des molekularen Labors des bekannten Malariaforschers Andrew Read übernehmen durfte. Aber insgesamt orientierten wir uns in dieser Zeit primär an Marcels Karriereschritten und dem Wohl der Kinder. Ich hatte Mühe mit der Vorstellung, unsere Kinder im US-amerikanischen System einzuschulen. Als die EPFL Lausanne eine Professur für Marcel schuf, brachen wir die Zelte in den USA ab und liessen uns am Genfersee nieder.

Wie haben Sie für sich selber einen Plan B gefunden?

Ich hatte schon während der ETH-Zeit ab und zu scherzhaft gesagt, wenn mir die Biologie eines Tages verleide, würde ich mir einen Rebberg suchen und Wein produzieren. Es ist mir immer erstaunlich leicht gefallen, in Blinddegustationen die Traubensorten zu erkennen – ich liebte dieses Spiel. Als wir in der Schweiz Fuss gefasst hatten, machte mich mein Mann darauf aufmerksam, dass die einzige Weinbau- und Önologie-Schule in der Schweiz gerade mal eine Viertelstunde von unserem Zuhause entfernt war. 2016 nahm ich also die Ausbildung in Nyon in Angriff. Ein paar Jahre ergab sich die Möglichkeit, bei der Organisation Fairfish eine Führungsrolle zu übernehmen.

So leicht entkommt man der Meeresbiologie offenbar nicht…

Für mich war das eine Herzensangelegenheit. Es braucht noch viel Aufklärung zum Thema Fischwohl. Fische sind empfindungsfähige Lebewesen wie Säugetiere – es ist grausam, wenn man sie auf Booten oder an Land einfach aus dem Netz kippt und auf dem Boden ersticken lässt.

Wie haben Sie als Weinproduzentin Fuss gefasst?

Zunächst beschränkte sich meine Motivation darauf, drei Fässer mit Wein produzieren zu können, wie ich ihn selber gerne trinken würde. Dann war die Resonanz im Freundeskreis so gut, dass ich Lust bekam, mein eigenes Label zu lancieren und auch Privatkunden und Restaurants zu beliefern. Von der Idee, einen Weinberg zu übernehmen, bin ich bald wieder abgekommen, weil ich vor allem die Arbeit im Keller liebe. Die meisten Winzer hier produzieren nicht selber, sondern verkaufen ihre Trauben an grosse Abnehmer. Dass ich keine Reben besitze, aber eigenen Wein herstelle, macht mich in dieser Branche zur Exotin. Ich bin komplett frei und kann machen, was ich will – sofern ich die entsprechenden Trauben in meinem Netzwerk finde. So ist auch dieser Chardonnay 2020 entstanden, ein genetischer Bruder des Pinot Blanc, eigenhändig geerntet auf einem Weingut eines befreundeten Winzers in Tartegnin.

Ihre Flaschen kosten zwischen 24 und 49 Franken – wer leistet sich einen Salathé-Wein?

Ich beliefere einige Restaurants und profitiere von viel Mund-zu-Mund-Propaganda. Da ich derzeit nur ein paar Hundert Flaschen pro Sorte und Jahrgang produziere, sind die Flaschenpreise höher als bei Grossproduzenten. Es ist extrem komplex, einen feinen, eleganten Wein zu machen – mich erinnert der Prozess immer wieder an Experimente, wie ich sie früher im Labor durchgeführt habe. Wichtig ist mir, dass man beim Trinken die Eigenart, das Geschmacksprofil der Traube spürt. In Kalifornien habe ich kürzlich wieder ernüchtert feststellen müssen, dass dort Weine aus verschiedenen Rebsorten ganz ähnlich schmecken, weil die gestampften Trauben mit Holzchips angereichert werden, die dem Wein einen Vanillegeschmack geben. Ich verstehe meine Arbeit anders, es ist eine intensive Spurensuche und oft ein Balanceakt zwischen Handwerk und Kunst.

Werden Sie in absehbarer Zeit ganz von der Weinproduktion leben können?

Ich sehe in der Nische noch viel Potenzial und kann mir gut vorstellen, meine Weine auch in die USA oder nach China zu exportieren. An Weinmessen und im Rahmen von Wettbewerben habe ich wiederholt viel Expertenlob erhalten, nun bin ich intensiv daran, meinen Kundenstamm zu vergrössern. Sollte es aber finanziell nicht aufgehen, kann ich mir auch gut vorstellen, als Biologie-Lehrerin meine Leidenschaft für die Natur weiterzugeben oder Mentorin zu werden für junge Forscherinnen. Ich habe selber mehrfach erlebt, wie wertvoll es sein kann, im richtigen Moment Mentoren zu begegnen, die einem Vertrauen schenken. Es wäre schön, wenn ich da etwas zurückgeben könnte.

Biobox:

Rahel Salathé (47) hat an der ETH Biologie mit Vertiefung in Ökologie und Evolution studiert und im Institut der Integrativen Biologie der ETH promoviert. Nach einem Postdoc am MBARI (Monterey Bay Aquarium Research Institute) in Kalifornien leitete sie ein paar Jahre das Molekulare Labor einer Malariaforschungsgruppe an der Penn State University. Zurück in der Schweiz hat sie im Jahre 2016 das Önologiestudium aufgenommen. 2019 bis 2022 war sie bei der Organisation Fairfish tätig. Seit Mitte 2022 widmet sie sich vollumfänglich der Kreation ihrer Weine. Rahel Salathé ist mit dem Epidemiologen Marcel Salathé verheiratet, das Paar hat zwei Kinder.

Kontakt:
 

Umsteigen im Beruf

Dies ist das sechste und letzte Interview einer Serie von sechs Porträts in den letzten Monaten. Wir befragen ETH-​​Alumni und -​Alumnae, die einen Berufswechsel gewagt haben. Mathias Morgenthaler hat sie gefragt, was sie antreibt, beruflich völlig neue Wege einzuschlagen. Morgenthaler ist Coach, Betreiber der Plattform externe Seite beruf-berufung.ch und Autor der Bücher «Aussteigen – Umsteigen» und «Out of the Box».

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