«Wer das Selbstgefühl stärkt und die Beziehung zu sich selbst pflegt, brennt weniger rasch aus»

Bei vielen Karriereentscheidungen von Ariane Orosz hat der Zufall Regie geführt. Heute kombiniert die promovierte Neurowissenschaftlerin drei verschiedene Tätigkeiten und schätzt die damit verbundene Vielseitigkeit. Als Expertin für Stressbewältigung weiss sie bestens, wie man sich vor Überbelastung schützen kann.

Ariane Orosz

Ariane Orosz, hatten Sie einen Traumberuf in jungen Jahren?

ARIANE OROSZ: In der Primarschule träumte ich davon, Tierärztin und Schauspielerin zu werden. Später im Gymnasium hatte ich in den Fächern Zeichnen und Biologie die besten Noten. Nach der Matura hätte ich gerne in Lausanne den gestalterischen Vorkurs gemacht, doch ich erhielt kein Stipendium und konnte diesen möglicherweise brotlosen Weg nicht weiterverfolgen – meine Eltern waren aus Ungarn in die Schweiz geflüchtet; es war klar, dass ich mir meinen Weg selber würde finanzieren müssen. So schrieb ich mich fürs Biologie-Studium an der Universität Zürich ein.

War das eine gute Wahl?

Es war eher eine Durchhalteübung. Ich empfand alles als sehr anonym und theoretisch und habe entsprechend gelitten, aber gleichzeitig war mir bewusst, dass ich dankbar sein musste für die Möglichkeit zu studieren. Neben dem Studium hatte ich diverse Jobs, machte beispielsweise frühmorgens das Medienmonitoring für eine Grossbank. Nach Abschluss des Grundstudiums wechselte ich an die ETH und studierte Neurowissenschaften. Wir waren nur etwa 20 Studierende und hatten einen gewissen Zusammenhalt. Zudem fand ich die bildgebenden Verfahren interessant, die uns erlaubten, die Hirnaktivitäten besser zu verstehen.

Hatten Sie bei Studienabschluss eine Idee, wie es beruflich weitergehen könnte?

Nein, ich wusste nur, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie einige andere in die Pharmaindustrie einzusteigen und im Aussendienst Medikamente zu verkaufen. Ich war ziemlich schüchtern und fühlte mich deshalb in der Forschung wohler. Allerdings störte es mich, dass in den Neurowissenschaften so viele Tierversuche durchgeführt wurden – Mäuse wurden getötet, damit wir die Milz untersuchen konnten, Ratten musste man das Rückenmark durchtrennen, zahllose Fische überlebten unsere Experimente nicht. Ich fragte einen Professor in Verhaltensneurobiologie, ob Forschung ohne Tierversuche möglich sei – so kam ich auf das Thema für meine Diplomarbeit, in der ich das assoziative Lernen bei Schizophreniepatient*innen untersuchte. Danach bin ich quasi in ein Doktoratsprojekt reingerutscht.

Das klingt nicht nach einer exakten Laufbahnplanung.

Nein, in vielem hat tatsächlich der Zufall Regie geführt. Als ich dann mit gut 30 Jahren einen Job ausserhalb der Forschung suchte, erhielt ich lauter Absagen, weil ich keine Arbeitserfahrung in der Wirtschaft vorweisen konnte. Auch da half mir der Zufall weiter. Ich traf an einer Party meine Doktormutter und diese fragte mich, ob ich am Zentrum für Stressbedingte Erkrankungen des Sanatorium Kilchberg das Burnout-Behandlungskonzept auf seine Wirksamkeit hin überprüfen möchte. So kam es, dass sich in meinem Berufsleben der letzten 10 Jahren praktisch alles ums Thema Stress gedreht hat.

 

«Viele vergessen oder übergehen sich selbst im Bemühen, viel zu leisten und jederzeit gut zu funktionieren.  »
Ariane Orosz

Aktuell kombinieren Sie drei Tätigkeiten: Sie leiten Stressbewältigungsgruppen am Sanatorium Kilchberg, forschen in einem 20-Prozent-Pensum für die ETH und sind zusätzlich selbstständig als Coach, Referentin und Kursleiterin tätig. Bedeutet eine solche Konstellation nicht automatisch jede Menge Stress?

Jede Arbeitsform hat Sonnen- und Schattenseiten. Ich mag die Abwechslung und Vielseitigkeit. Im Rahmen meines 60-Prozent-Pensums am Sanatorium Kilchberg konnte ich mein Aufgabenspektrum kontinuierlich erweitern: Zuerst führte ich mit einem Team die Wirksamkeitsstudie durch und arbeitete in der Betreuung der Burnoutpatient*innen. Später übernahm ich eine Patientengruppe und entwickelte das Gruppenprogramm in Stressbewältigung weiter. Ausserdem etablierte ich das Biofeedback-Angebot.

Wie kam es zum Schritt in die Teilselbstständigkeit?

Das verdanke ich einem weiteren Zufall. In einem Bewerbungsgespräch erwähnte der Interviewer beiläufig, er sei auch als Coach tätig. Mit dieser Bemerkung pflanzte er bei mir einen Samen. Ich recherchierte viel in diesem für mich neuen Berufsfeld und wurde auf die Ausbildung am IBP Institut in Winterthur aufmerksam. Mir gefiel der integrative, körperorientierte Therapieansatz – gerade für Naturwissenschaftler*innen ist es ja oft nicht so leicht, wirklich ins Spüren zu kommen und sich nicht aufs Denken zu beschränken. Vermutlich nahm ich da das Steuer zum ersten Mal ganz bewusst in meine Hand, als ich mich für die 3,5-jährige berufsbegleitende Ausbildung anmeldete.

Die vorher angesprochene Schüchternheit scheint dabei auf der Strecke geblieben zu sein, denn inzwischen halten Sie regelmässig Vorträge über Stressmanagement.

Ich bin da in den letzten Jahren in eine neue Rolle hineingewachsen. Meine Erfahrungen aus den Neurowissenschaften, der Arbeit mit den Burnoutpatient*innen und dem Coaching-Ansatz auf den Grundlagen der Integrativen Körperpsychotherapie habe ich in ein eigenes Trainingskonzept verdichtet. Dadurch bekam ich die Chance, bei Hogrefe das Buch „Stress ganzheitlich verstehen und managen“ zu publizieren, was viele Anfragen für Referate und Workshops zur Folge hatte. Ich mag diese Mischung aus vertiefter wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit einem Thema und gut verständlichem Transfer in den Alltag der Menschen.

Worauf sollte der Laie achten im Umgang mit Stress?

Viele vergessen oder übergehen sich selbst im Bemühen, viel zu leisten und jederzeit gut zu funktionieren. Deshalb ist es elementar, die Selbstwahrnehmung zu fördern – dazu gehört die Körperwahrnehmung genauso wie die Wahrnehmung von Emotionen. Wer das Selbstgefühl stärkt und die Beziehung zu sich selber pflegt, brennt weniger rasch aus. Leider haben viele Menschen ein stärker ausgeprägtes Sensorium für eigene Unzulänglichkeiten und Erwartungen des Umfelds als für das, was sie brauchen, um sich wohl zu fühlen. Je nach Prägungen durch die Herkunftsfamilie dominiert dann das Gefühl, unendlich viel geben zu müssen, um etwas zurückzubekommen. Je besser die Selbstwahrnehmung ist, desto besser kann man sich Sorge tragen.

Haben Sie einen konkreten Tipp für Stressbewältigung?

Die Angebotspalette ist riesig – am besten probiert man aus, was einen weiterbringt. Manche finden durch Meditation zur Ruhe, für andere ist das eine Qual. Mir persönlich ist Bewegung wichtig, körperliche Aktivität ohne Leistungsanspruch, etwa beim Tanzen. Ein zweiter Pfeiler ist bewusste Beziehungspflege. Man kann sich aus Gewohnheit mit Menschen treffen oder bewusst Zeit verbringen mit jenen, die uns wirklich gut tun. Und zur Selbstfürsorge gehört auch, die eigenen Prägungen und Antreiber zu verstehen und einen liebevollen Umgang damit zu erlernen. Wenn ich als Kind gelernt habe, es immer allen recht zu machen, ist es heilsam, wenn ich mir im Erwachsenenalter erlaube, auch Dinge zu tun, die sich für mich selber gut anfühlen – unabhängig davon, ob mir jemand dafür applaudiert.

 

Zur Person:

Ariane Orosz (42) hat an der ETH Neurowissenschaften studiert und darin promoviert. Seit über zehn Jahren arbeitet sie am Zentrum für Stressbedingte Erkrankungen am Sanatorium Kilchberg mit Burnoutpatient*innen. 2016 schloss sie ihre Ausbildung als integrative Coach/ Beraterin am IBP Institut für Körperpsychotherapie ab und ist seither nebenberuflich als selbständige Coach tätig; sie ist eine gefragte Referentin zum Thema Stress und Stressbewältigung.

Kontakt: 

 

Umsteigen im Beruf

Dies ist das fünfte Interview in einer Serie von sechs Porträts in den kommenden Monaten. Wir befragen ETH-​​Alumni und -​Alumnae, die einen Berufswechsel gewagt haben. Mathias Morgenthaler hat sie gefragt, was sie antreibt, beruflich völlig neue Wege einzuschlagen. Morgenthaler ist Coach, Betreiber der Plattform externe Seite beruf-​​berufung.ch und Autor der Bücher «Aussteigen – Umsteigen» und «Out of the Box».

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