„Ich mag es, wenn Herz, Hirn und Hand zusammenspielen“
Am liebsten wäre sie ein „normales Kind“ gewesen, doch Elena Dürst fiel früh durch ihre Hochbegabung auf und setzte sich mehrfach als einzige Frau in technischen Disziplinen durch. Aktuell arbeitet die 35-Jährige als Bioinformatikerin und absolviert parallel dazu die Ausbildung zur Shiatsu-Therapeutin, wo sie ganz neue Seiten an sich entdeckt.
Elena Dürst, hatten Sie viele Mitstudentinnen im Studiengang Elektrotechnik an der ETH?
ELENA DÜRST: Nein, die musste man mit der Lupe suchen. Unter den 180 Studierenden, die den Bachelor gemacht haben, gab es neben mir gerade mal fünf Frauen.
Haben Sie sich als Pionierin gefühlt oder eher als Exotin?
Mir ist erst vor einigen Jahren bewusst geworden, dass ich in Ausbildung und Berufsleben praktisch immer mit Männern zu tun hatte und mich deshalb kaum mit Kolleginnen austauschen konnte. Als etwas Besonderes habe ich mich deswegen nicht gefühlt. Eigentlich hatte ich mir schon als Kind vor allem gewünscht, normal zu sein.
Waren Sie das nicht?
Nein, leider nicht. Als ich in der dritten Klasse war, meldete sich der Primarschullehrer bei meinen Eltern und riet dringend zur Abklärung auf Hochbegabung. Es stellte sich heraus, dass ich mit 9 Jahren in Mathematik auf dem Level einer 15-Jährigen war. Meine Eltern schickten mich auf eine internationale Schule, wo ich Englisch hätte sprechen müssen. Dort bin ich buchstäblich verstummt, habe ein Jahr lang praktisch kein Wort gesprochen vor lauter Angst, Fehler zu machen. Ich fühlte mich sehr einsam, wäre so gerne einfach ein normales Kind gewesen; stattdessen war ich mindestens einen Kopf kleiner als alle anderen und litt unter dem Stempel „hochbegabt“.
Wie haben Sie herausgefunden, was Sie beruflich machen möchten?
Nach einem Jahr in der internationalen Schule habe ich zum Glück in der öffentlichen Schule den Tritt wieder gefunden. Dank einer guten Lehrerin und Freundinnen war mein Selbstvertrauen bald wieder intakt. Meine Eltern, die beide in einfachen Verhältnissen aufgewachsen waren, hatten mir mit auf den Weg gegeben, dass es wichtig ist, möglichst viel aus seinen Möglichkeiten zu machen und durch Leistung aufzusteigen. Da ich ein Jahr in der Schule übersprungen hatte, hatte ich mit knapp 18 Jahren die Matura im Sack. Ich war zu jung für den Sozialeinsatz auf Honduras, den ich gerne in Angriff genommen hätte, und traute mich nicht, Psychologie zu studieren, weil es damals hiess, das würden nur jene machen, die sonst keine Optionen hätten.
«Ich dachte, man könnte mein Hirn ausbauen und an einen Computer anschliessen.»Elena Dürst
Warum fiel die Wahl auf Elektrotechnik?
Wir hatten im Gymnasium ein Unternehmen besucht, das Leiterplatten für implantierbare Hörgeräte entwickelte. Schon damals dachte ich: Es wäre schön, wenn ich mein Mathematik-Talent für einen sozialen Zweck nutzen könnte. So studierte ich Elektrotechnik und Biomedizinische Technik. Obwohl ich lange Zeit keinen Computer besessen hatte und wirklich kein Nerd war, lernte ich schnell und kam im Studium gut voran. Mein Plan, danach einen Job beim Hörgerätehersteller Phonak (heute Sonova) zu bekommen, ging leider nicht auf. Weil ich gut programmieren und Software entwickeln konnte, rutschte ich dann zunehmend in die Informatik ab.
Es klingt nicht gerade nach einer Liebesbeziehung…
Ich habe früh realisiert, dass ich einen Ausgleich brauche zu dieser kopflastigen Tätigkeit – etwa den Bauchtanz, das Pilates-Training und immer wieder ausgedehnte Reisen. Was ich mochte und bis heute mag an der Software-Entwicklung ist die Herausforderung, für komplizierte Probleme einfache, elegante Lösungen zu finden. So habe ich bei meinem ersten Arbeitgeber mit Kollegen für einen Kunden die Software für eine Kaffeemaschine programmiert. Für den Konsumenten, der die Maschine bedient, ist das eine simple Sache; für uns, die sich um alle Details kümmern mussten, war es ein Jahr Arbeit in einem zehnköpfigen Team.
Wie haben die Reisen den Blick auf Ihre Arbeit verändert?
2016 nahm ich mir eine 15-monatige Auszeit und reiste mit öffentlichen Verkehrsmitteln via Italien, Kroatien und Griechenland nach Indien. In Griechenland half ich zwei Wochen lang in einem Flüchtlingscamp auf der Insel Leros mit – und erlebte, wie befriedigend es ist, eine so unmittelbar sinnstiftende Arbeit zu verrichten. In Indien war ich überwältigt von all den Eindrücken und fühlte eine grosse Verbundenheit – vielleicht auch durch das tägliche Meditieren. Zurück in Zürich fühlte ich mich zerrissen zwischen meinem Job und jenen Tätigkeitsfeldern, wo ich wirklich etwas gesellschaftlich Relevantes hätte machen wollen. Weil ich keinen Studienplatz im Nachdiplomstudium Entwicklungszusammenarbeit an der ETH bekam, reduzierte ich mein Pensum auf 80 Prozent, um Spielraum für ehrenamtliche soziale Projekte zu haben.
Wie sind Sie vor knapp zwei Jahren auf die Idee gekommen, eine Zweitausbildung zur Shiatsu-Therapeutin in Angriff zu nehmen?
Ich hatte als Klientin schon Erfahrung mit Shiatsu. Nach dem ersten Covid-Lockdown besuchte ich mit meinem Freund einen Shiatsu-Kurs. Ich war komplett überwältigt, welche Wirkung eine so einfache Tätigkeit haben kann. Durch achtsames Einsinken mit den Händen an einigen Stellen, stellte sich bei meinem Freund eine extreme Entspannung ein. Nach dem Kurs waren die Therapeutin, mein Freund und ich uns einig: Das wäre was für mich. Wenig später begann ich die vierjährige Ausbildung.
Was mögen Sie an dieser manuellen Therapieform, die auf die traditionelle chinesische Medizin zurückgeht?
Mein grosses Problem in meinen bisherigen Jobs war, dass ich immer dachte, man könnte mein Hirn ausbauen und an einen Computer anschliessen – der ganze Restkörper spielte keine Rolle. Beim Shiatsu bin ich ganzheitlich gefordert, mit den Händen, dem Kopf, meiner Intuition. Ich sehe jeden Menschen in seiner Einzigartigkeit, ohne Bewertung. Zudem gibt es kein simples Richtig oder Falsch. Natürlich braucht man Fachwissen, etwa über die Bedeutung der Meridiane und ihren Einfluss auf die Organe und Psyche. Aber im Detail kann man das ganze Zusammenspiel nicht durchleuchten. Das ist eine Herausforderung, vor allem aber sehr befreiend. Ich mag es, wie Herz, Hirn und Hand hier zusammenspielen.
Derzeit arbeiten Sie 70 Prozent als Bioinformatikerin in einem Forschungslabor der Uni Zürich. Wollen Sie auch ab 2025, wenn die Shiatsu-Ausbildung abgeschlossen sein wird, zweigleisig fahren?
Der Ausgleich tut mir momentan sehr gut und ich kann mir gut vorstellen, auch später verschiedene Tätigkeiten zu kombinieren. Ich habe mich schon sehr früh zu dem hingezogen gefühlt, was ich an der Shiatsu-Therapie so schätze – die körperorientierte Arbeit, das Soziale, die zwischenmenschliche Interaktion. Doch ich hatte lange Zeit das Gefühl, mein Gehirn verpflichte mich dazu, etwas intellektuell Herausragendes zu machen. Dazu kam, dass dieser Weg gesellschaftliche Anerkennung garantierte. Wenn man als Frau an der ETH in Elektrotechnik abschliesst, erntet man überall Bewunderung. Den für einen selbst stimmigen Weg zu finden, ist eine vergleichsweise einsame Aufgabe, da gibt es weniger Applaus. Aber die Befriedigung ist grösser, wenn man lernt, der inneren Stimme zu vertrauen und für sich einzustehen.
Zur Person:
Elena Dürst (35) hat an der ETH den Bachelor in Elektrotechnik und den Master in Biomedizinischer Technik erworben. Nach vielen Jahren Berufstätigkeit als «Embedded Software Engineer» hat sie 2021 die berufsbegleitende Ausbildung zur Komplementär-Therapeutin in der Methode Shiatsu begonnen. Daneben arbeitet sie als Bioinformatikerin in einem medizinischen Forschungslabor der Universität Zürich.
Kontakt:
Umsteigen im Beruf
Dies ist das dritte Interview in einer Serie von sechs Porträts in den kommenden Monaten. Wir befragen ETH-Alumni und -Alumnae, die einen Berufswechsel gewagt haben. Mathias Morgenthaler hat sie gefragt, was sie antreibt, beruflich völlig neue Wege einzuschlagen. Morgenthaler ist Coach, Betreiber der Plattform externe Seite beruf-berufung.ch und Autor der Bücher «Aussteigen – Umsteigen» und «Out of the Box».