«Wenn dein Pferd tot ist, gibt es kein Weiterreiten»
Was veranlasst jemanden dazu, beruflich umzusatteln? Und wovon hängt es ab, ob ein Aus- oder Umstieg gelingt? Mathias Morgenthaler, der über 1000 Menschen in Umbruchsphasen porträtiert und Hunderte als Coach begleitet hat, erzählt im Interview, warum sich das Leben oft nicht an unsere Pläne hält und worauf es in der Arbeitswelt von morgen ankommt.
Mathias, du schreibst seit 25 Jahren über Menschen mit Brüchen in der Berufsbiografie und bist Co-Autor des Buchs «Aussteigen Umsteigen». Woher rührt dein Interesse an diesem Thema?
Als Kind habe ich zuhause am Familientisch erlebt, wie belastend es sein kann, wenn jemand beruflich im falschen Film ist. Mein Vater wäre gerne Künstler oder Arzt geworden, aber er gab dem Druck seiner Eltern nach und war dann viele Jahre seines Lebens Bundesangestellter. Er schimpfte oft, wenn er von Vorgesetzten oder Kolleginnen erzählte am Mittagstisch, aber ich glaube, er war im Grunde wütend auf sich selber, dass er nicht den Mut gehabt hatte, seinen eigenen Ambitionen zu folgen.
Wie hast du beruflich deinen Weg gefunden?
Ich bin schon mit 20 Jahren temporär ausgestiegen, als ich entschied, zwischen Matura und Studium ein Zwischenjahr einzulegen. Nach vielen Jahren auf der Schulbank wollte ich praktisch arbeiten und mein eigenes Geld verdienen. Diese Auszeit, als ich bei der Publicitas im Telefonverkauf tätig war und dort einen Chef hatte, der mich förderte, war für meinen weiteren Werdegang wichtiger als Matura und Studium zusammen. Als Inserateverkäufer kam ich in Kontakt mit den Redaktoren der Tageszeitung «Bund» und entdeckte, dass man vom Neugierig-Sein und Schreiben leben konnte. So war ich als Student regelmässig für den Sport-, Lokal-, Kultur-, Wirtschafts- und Auslandteil des «Bund» im Einsatz.
Später hast du über 20 Jahre lang wöchentlich in Tamedia-Zeitungen Menschen porträtiert, die irgendwann nochmals neu angefangen haben. Ist dir dieses Thema nie verleidet?
Nein, im Gegenteil. Mich hat der Mut der Menschen, die ich porträtieren durfte, immer beeindruckt. Ein promovierter Theologe, der sich kurz vor der Habilitation an seinen Bubentraum erinnert und Feuerwehrmann wird, eine Brillen-Verkäuferin, die sich gegen die Pensionierung sträubt und als Privatdetektivin selbstständig macht, ein Manager, der sich selber in der Chefrolle nicht mehr ausstehen kann und sich zum Sterbebegleiter und Tantramasseur ausbilden lässt... solche Geschichten zeigen, dass wir uns nicht zu sehr an unsere Pläne klammern sollten, wenn es nicht mehr stimmt oder wenn etwas Neues ruft.
Hattest du beim Schreiben das Ziel, die Leserinnen und Leser zum Umsteigen zu animieren?
Nein, aber ich habe tatsächlich immer mehr Anrufe erhalten von Menschen, die mit mir über ihre berufliche Situation reden wollten. So hat sich mein eigener Schwerpunkt über die Jahre verschoben: Ich bin heute nicht mehr angestellter Journalist, sondern mein eigener Chef und vor allem als Coach und Erwachsenenbildner tätig. Mein Beispiel zeigt, dass Umsteigen nicht heissen muss, plötzlich alles auf den Kopf zu stellen. Man kann auch allmählich etwas Neues aufbauen und das Pensum beim bisherigen Arbeitgeber reduzieren. Oder man kombiniert unterschiedliche Tätigkeiten wie jener promovierte Medienspezialist, der sich gegen eine Professur entschied, um neben einem stabilen Job in einem Bundesamt noch mit Freunden Tonic- und Aperitif-Getränke entwickeln zu können.
Welches sind die häufigsten Auslöser für berufliche Umstiege?
Leidensdruck oder Sehnsucht – oder eine Mischung von beidem. Der Leidensdruck wirkt unmittelbarer und stärker: Wenn sich jemand bis zur Erschöpfung überarbeitet hat, wenn die Beziehung zum Chef oder zur Chefin schwierig ist oder wenn jemand in einer schrumpfenden Branche entlassen wird, sind das Steilvorlagen fürs Umsteigen. Gerade ab Lebensmitte kann aber auch die Sehnsucht ein starker Treiber werden. Manchmal erinnern sich Menschen plötzlich wieder an etwas, was ihnen einmal wichtig gewesen ist, oder sie gewichten Sinnfragen stärker als Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten. Dann kommt es schon einmal vor, dass eine Juristin zur Hypnosetherapeutin umsattelt, ein Grafiker sich zum Pflegefachmann ausbilden lässt oder ein Polymechaniker einen veganen Käseersatz entwickelt.
Mit welchen Fragen kommen Menschen, die umsteigen wollen, ins Coaching?
Viele stehen vor der Herausforderung, dass sie zwar spüren, was sie nicht mehr wollen, aber noch keine Ahnung haben, was das Neue sein könnte. Die meisten hätten gerne einen exakten Plan, der jedes Risiko ausschliesst. Die Erfahrung zeigt aber, dass es oft die Bereitschaft braucht, das Bekannte loszulassen und das Nichtwissen auszuhalten. Viele treibt auch die Frage um, ob man etwas aufgeben darf, in das man 10 oder 20 Jahre Zeit und Energie investiert hat. Ich verstehe gut, dass das Überwindung kostet, aber wenn dein Pferd tot ist, gibt es kein Weiterreiten – da hilft nur Absteigen.
Tun sich Akademiker:innen schwerer mit Umsteigen als andere?
Tendenziell schon, weil sie mehr Zeit und Geld in die Ausbildung investiert haben; oft spielt auch der gesellschaftliche Status eine Rolle. Wenn die ganze Familie stolz auf dich ist, weil du als Erster studiert hast, braucht es mehr Mut, später auf einen handwerklichen Beruf umzusatteln. Von einem Kollegen weiss ich, dass er es nicht übers Herz brachte, seinen Eltern zu sagen, dass er lieber Postauto fahren würde statt als Akademiker dauernd vor einem Bildschirm zu sitzen. Er hat sich seinen Traum erst erfüllt, nachdem die Eltern gestorben waren. Viele Berufsentscheidungen sind stark geprägt von der Herkunftsfamilie. Deshalb ist es so wichtig, immer wieder für sich eine ehrliche Zwischenbilanz zu ziehen. Wir sind niemandem etwas schuldig und sollten unseren eigenen Weg suchen. Die Erwartungen anderer zu erfüllen oder partout am Bestehenden festzuhalten, kann sehr anstrengend sein.
Was sagt eigentlich die Statistik: Nehmen Aus- und Umstiege zu?
Es gibt meines Wissens keine Studie, die das gesamtheitlich erfasst. Die Quote der Stellenwechselnden ist seit zwölf Jahren ziemlich stabil. Sie sagt aber nichts darüber aus, wie zufrieden jene sind, die nichts an ihrer Situation ändern – vielleicht leisten sie bloss Dienst nach Vorschrift und haben innerlich längst gekündigt. Einzelaspekte wie die berufliche Mobilität junger Berufsleute werden zwar untersucht, aber auch da können die Motive sehr verschieden sein: Wechselt jemand aus persönlichen Gründen oder weil ein Roboter seinen Job besser erledigt? Generell kommen die Arbeitgeber unter Druck, weil mehr Angestellte in Rente gehen als Nachwuchs nachrückt. Das erhöht die Offenheit für Quereinstiege. Klar ist auch: Die Arbeitswelt ist im Umbruch, Jobsicherheit gibt es kaum mehr, Arbeit wird vermehrt ausserhalb von Unternehmensgrenzen organisiert sein. Das Wichtigste ist deshalb, ob man brennt für das, was man tut, und ob man sich dabei weiterentwickelt.
Zur Person
Mathias Morgenthaler hat in den letzten 25 Jahren über 1000 Interviews zum Thema Beruf + Berufung geführt (u.a. Tages-Anzeiger und «Der Bund»). Als Coach hat Morgenthaler Hunderte von Menschen bei Aus- und Umstiegen begleitet und in der Frage beraten, wie sie beruflichen Erfolg und persönliche Erfüllung in Einklang bringen können. Er ist Initiant der Veranstaltungsreihe Berufungs-Forum, Betreiber des Portals externe Seite beruf-berufung.ch und Mitgründer/Teilhaber der externe Seite Beruf+Berufung Education GmbH, einem Bildungsunternehmen, das Coaches und Mentor*innen ausbildet.
Morgenthaler ist Autor der Bestseller externe Seite «Aussteigen – Umsteigen» (gemeinsam mit Marco Zaugg) und «Out of the Box – vom Glück, die eigene Berufung zu leben». Er hat das Buch «Corporate Rebels» vom Englischen ins Deutsche übersetzt.