Markus Blocher: «Innovation und Kreativität setzen voraus, dass Menschen mit Erfahrung und Wissen vor Ort zusammenkommen und miteinander arbeiten.»
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ETH Alumnus Markus Blocher studierte und promovierte in Chemie an der ETH Zürich. Seit 2003 ist er CEO, seit 2005 Mehrheitsaktionär und seit 2012 Verwaltungsratspräsident der Dottikon ES, einem Spin-off aus der EMS-Chemie. In diesem Interview spricht er über seinen Werdegang und die aktuellen Herausforderungen als CEO eines mittelständischen Unternehmens.
Was wolltest Du als Kind werden?
Mein erster Berufswunsch war Postautofahrer wegen dem Dreiklanghorn (lacht). Später stellte ich mir dann die Frage, ob ich eine Berufslehre machen sollte und schnupperte als Bäcker-Konditor. Ich hatte Interesse, ich wollte mehr wissen und verstehen. Das erste Mal schaffte ich die Gymi-Prüfung wegen Französisch und Deutsch nicht. Nach einem dritten Jahr Oberstufe und einem Extraeffort in Sprachen schaffte ich schliesslich den Eintritt in das mathematische und naturwissenschaftliche Gymnasium. Nach einem Austauschjahr in den USA und der Rückkehr in die alte Klasse hatte ich erneut meine Kämpfe mit dem Französisch, dessen Vokabular ich fortan aus meinem Englisch ableitete. Bei der mündlichen Maturaprüfung meinte mein Französischlehrer: "Es ist zwar nicht alles korrekt, was Sie sagen, aber man versteht wenigstens, was Sie meinen."
Was sind heute Deine Anforderungen an die Schulen?
Lesen, Schreiben und Rechnen sind die Grundlage für die Integration und Chancengleichheit für Fähige. Dazu braucht es eine fordernde öffentliche Bildung durch passionierte Vollzeitlehrer, die Schwergewichte auf die regionale Landessprache (Wort und Schrift), Mathematik, Naturwissenschaft, Technik und Informatik (MINT) setzen. Es kann nicht sein, dass nur Kinder mit Eltern, welche ein höheres Bildungsniveau haben, und die Kinder zu Hause oder mit Privatlektionen unterrichten, weiterkommen. Lehrerin und Lehrer ist keine Teilzeitaufgabe, es ist ein Bekenntnis und braucht 180-prozentigen Einsatz. Meines Erachtens haben heute Sprachen und Nebenfächer ein zu grosses Gewicht. Auch die MINT-Berufslehren müssen gestärkt werden. Gerade bei diesen technischen Berufsleuten besteht der wahre Fachkräftemangel. Die Kombination von erfahrenen Berufsleuten und wissenden Hochschulabsolventen macht am Ende in einem Unternehmen den Erfolg aus.
Du hast an der ETH Zürich Chemie studiert und promoviert. Was hat Dich zu einem Studium an der ETH inspiriert?
Meine Stärken lagen immer in der Mathematik und den Naturwissenschaften. Chemiker schien mir kein brotloser Job zu sein. Wenn man ein Studium in der Chemie anfängt, weiss man zwar noch nicht genau was Chemie ist, doch auch nach dem Doktorat hat man vieles noch nicht verstanden. Das Chemie-Studium bietet den grossen Vorteil, dass es Theorie und Praxis eng miteinander verknüpft, und die ETH war eine angesehene Hochschule. Als ich anfing zu studieren, feierte die ETH gerade Richard Ernst mit seinem Chemie-Nobelpreis. Nach dem Studium hatte ich vorerst Interesse, meine Doktorarbeit in den USA zu machen. Ich habe dazu einige Möglichkeiten erhalten, stellte jedoch fest, dass keine andere Hochschule so gut eingerichtet war wie die ETH, und man in den USA während der Doktorarbeit weiterhin Pflichtvorlesungen besuchen musste. Ich wollte nun aber forschen und mich da weiterbilden, wo es mich gerade interessierte. Meine heutige Frau startete damals zudem eine Weiterbildung, und ich wollte unsere Beziehung nicht aufs Spiel setzen. So war es letztendlich auch ein Entscheid für meine heutige Familie mit sieben Kindern.
Du bist nun CEO, Verwaltungsratspräsident und Mehrheitsaktionär der Dottikon ES. Wie hat Dich die ETH auf diese Positionen vorbereitet?
Die Hochschule hat zwei Aufgaben: Die Lehre und die Forschung, das heisst Wissens- und Erkenntniserweiterung. Die Lehre hat mein Wissen vertieft und verbreitert. Die Forschung hat mein analytisches Denken, Beobachten, Ausprobieren und das konzeptionelle Einordnen in Modelle geschärft. Dafür bin ich den Professorinnen und Professoren, Dozentinnen und Dozenten, Assistentinnen und Assistenten sowie meinen Mentorinnen und Mentoren dankbar.
Ich doktorierte bei Pier Luigi Luisi, der damals kurz vor der Pension stand. Er war wie manch ein Chemiker mit zunehmenden Alter Philosoph geworden und beschäftigte sich mit dem Ursprung des Lebens. Er kannte viele grosse interessante bis umstrittene Persönlichkeiten, zu welchen er für uns den direkten Kontakt ermöglichte. Das öffnete meinen Horizont. Seine rechte Hand Peter Walde brachte mir das wissenschaftliche Arbeiten bei. Er war wichtig in meiner Entscheidung, in dieser Arbeitsgruppe zu doktorieren. In Gesprächen liess er regelmässig subtil Hinweise auf andere Forschungsarbeiten einfliessen und weckte mein Interesse und die Neugier. Es ergaben sich daraus immer wieder neue Seitenstränge und Inspirationen für meine Forschung. Ich arbeitete selbstständig – selbst und ständig. Das beflügelte, ohne dass ich gestresst war. Zudem habe ich während meines Doktorats freiwillig die betriebswirtschaftlichen Vorlesungen an der ETH von Armin Seiler besucht, welche mir in intensiven Kursen das Grundrüstzeug für die Wirtschaft vermittelt haben.
Für Vorgesetzte war ich nie so einfach (lacht). Es entspricht eher meinem Naturell zu führen als geführt zu werden. Das unabhängige, kritische, faktenbasierte, analytische und konzeptionelle Denken habe ich von der ETH mitgenommen. Der Praxis-Bezug aus der Chemie hilft mir heute natürlich, aber wir haben bei der externe Seite Dottikon ES viel die besseren Chemikerinnen und Chemiker, als ich es bin.
Und wie ging es für Dich nach dem Doktorat weiter?
Nach dem Doktorat wechselte ich in die Beratung. Das war eher zufällig. Die luden mich an einen dreitägigen Workshop ein. Da waren alles Hochschulabsolventinnen und Hochschulabsolventen mit unterschiedlicher Fachrichtung. Einer Gruppe zugeteilt, erhielten wir eine Fallstudie. Es ist gewaltig, was rauskommt, wenn Personen mit unterschiedlichem Hintergrund mit gesundem Menschenverstand konstruktiv zusammenarbeiten. Nach einer ersten Vorstellungsrunde bekam ich dann eine Absage: "Kunden sind wie weichgekochte Spaghetti, man muss diese ziehen, nicht stossen." Der Partner, der mich zu der ursprünglichen Bewerbung bewogen hatte, setzte sich für mich und eine weitere Vorstellungsrunde ein. Schliesslich bekam ich eine Zusage. Später fand ich heraus, dass der Partner seine Hand für mich ins Feuer legen musste, dass ich keine Kunden vergraulen würde.
Mein Plan war nie mehr als zwei bis drei Jahre Beratung zu machen. Macht man dies zu lange, verändert es die Persönlichkeit. Ich arbeitete sehr viel, habe aber auch sehr viel gelernt. Ich würde das wieder tun. Zeit für Bewerbungen gab es nach fast drei Jahren kaum. Mein Vater rief mich dann eines Tages an, er brauchte einen Projektleiter. Ich schloss grade ein laufendes Projekt ab, es standen dazu zahlreiche Absenzen wie Vaterschaftsurlaub, Ferien und Militärdienst bevor. So kam es, dass ich von einer Woche auf die nächste den Wechsel zur EMS-Chemie vollzog. Ich war verantwortlich für dieses Projekt, was vorerst die Neubestimmung der Gesamtgruppenstrategie bedurfte. Als dann die Geschäftsleitung der damaligen EMS-Dottikon, heute Dottikon ES, über ein Wochenende vakant wurde, wurde mir überraschend die Führung übertragen.
Ich war in Dottikon wieder mit den ähnlichen strategischen Fragen konfrontiert, die sich mir schon als Projektleiter auf der Gruppenebene gestellt hatten. Wir erklärten uns ständig gegenseitig, wie das Geschäft laufen sollte. Ich kam wiederholt zum Schluss, dass das Werk in Dottikon sich separat besser entwickeln könnte. Ich finde ausserdem, dass zu viele Familienmitglieder im gleichen Unternehmen nicht förderlich sind. Infolge der Wahl meines Vaters in den Bundesrat kam es 2005 zur Entflechtung mittels Spin-off von EMS. Was zur heutigen Situation führte, die mit meiner Person ziemlich gut kompatibel ist.
Meines Erachtens muss man in der Ausbildung am Anfang des Berufslebens folgendes lernen: Daten und Fakten anschauen, kritisch hinterfragen um zu verstehen, analysieren, schlussfolgern und danach handeln. Gesunder Menschenverstand mit einem scharfen analytischen Geist, der objektiv bleibt, das ist die beste Grundlage. Wenn etwas schiefläuft, muss man rasch korrigieren und neu ausrichten. Mit Versuch und Irrtum findet man den besten Weg. Dazu gehört harte und saubere Arbeit sowie Ausdauer, aber auch Glück, wie Louis Pasteur sagte: "La chance ne sourit qu'aux esprits bien préparés." (Der Zufall begünstigt nur den vorbereiteten Geist.)
Was sind aktuell die Herausforderungen der Dottikon ES?
Nach dem Spin-off wurde eine Neuausrichtung in der Strategie und Kultur konsequent vollzogen. Das dauerte etwa zehn Jahre. Die Leistungsführerschaftsstrategie als Entwicklungs- und Produktionspartner sowie Spezialist für sicherheitskritische Reaktionen setzten und setzen wir konsequent um. Wir sind überzeugt, dass sie der richtige Weg ist. Die Resultate geben uns recht: Wir verzeichnen ein gutes Wachstum. Wir lösen die Probleme unserer Kunden, schaffen so Mehrwert. So machen wir diese Kunden erfolgreich und wachsen mit ihnen. Durch Wachstum brauchen die Kunden mehr Produktemengen. Um die Kapazitäten zu erhöhen um den Bedarf der Kunden zu decken, investieren wir in den nächsten sieben Jahren 700 Millionen Schweizer Franken in Dottikon. Das ist viel und eine grosse Herausforderung, denn für das Wachstum hat man immer zu wenig an Ressourcen. Schrumpfen ist emotional zwar sehr belastend, aber deutlich einfacher.
Wir bauen neue Anlagen, welche wir betreiben und unterhalten. Um das zu bewerkstelligen brauchen wir Ingenieurinnen und Ingenieure aus verschiedensten Disziplinen, von Maschinen-, Verfahrens- bis Elektrotechnik, nicht nur aus der Chemie. Natürlich brauchen wir auch Chemikerinnen und Chemiker, sei es für die Forschung und Entwicklung, Pilotierung, Produktion oder Qualitätskontrolle und -management. Wir nehmen die Absolventen und Absolventinnen oft direkt von der Hochschule, sie müssen einfach das Basiswissen ihres Fachs mitbringen und die Grundprinzipien verstanden haben. Den Rest bringen wir ihnen bei. Wenn sie praktische Arbeit vorweisen können, ist das auch gut.
Die geopolitische Lage hat sich verändert, die strategischen Fronten verlaufen entlang der geografischen Regionen Osteuropa, Naher Osten und Südostasien. Der hohe globale Spezialisierungs- und Konzentrationsgrad der Wertschöpfungsketten birgt im Grosskonfliktfall ein immenses Vernichtungspotential. Diese Gefahr weckt das Bedürfnis nach Reduktion der geopolitischen Abhängigkeit und entsprechender Neuausrichtung der Interessenbindung. Daher wird eine wirtschaftliche Entflechtung durch die rivalisierenden Parteien angestrebt und entsprechend vorangetrieben. Die Reindustrialisierung hat eingesetzt und wird das Umfeld die nächsten zehn Jahre prägen. Insofern wird auch wieder vermehrt in der Schweiz produziert. Gut ausgebildete Berufsleute für die Produktion sind Mangelware. Unsere Tätigkeit ist sehr anspruchsvoll: Mitarbeitende haben durch ihre Arbeit den Einfluss und die Verantwortung über Reaktoren mit Warenwerten über einer Million Schweizer Franken. Da darf nichts schiefgehen. Mitarbeitende sind die wichtigste Ressource im Unternehmen. Ein Unternehmen ist nur so gut wie seine Mitarbeitenden. Anlagen und Ausrüstung kann man mit Geld beschaffen. Gute Mitarbeitende muss man für die Sache gewinnen.
Es geht darum, die richtigen Mitarbeitenden zu befähigen. Das heisst fordern und fördern. Ich möchte, dass diese mit der Organisation wachsen, horizontal wie auch vertikal. Nur so kann das Unternehmen das anstehende Wachstum und die anstehenden Herausforderungen meistern. Die Erfahrung ist wichtig, da wir in einem Umfeld operieren, in der Qualität eine hohe Bedeutung hat. Wir haben viele langjährige Mitarbeitende. Sie wissen, was sie tun, sie verstehen was der Langzeiteffekt ihrer Entscheidungen und Arbeit ist und setzen sich für die nachhaltige Problemlösung ein, schaffen so langfristig Mehrwert. Das sichert die Zukunft unseres Unternehmens und die Arbeitsplätze.
Wie sieht Dein Arbeitsalltag aus?
Für jeden Morgen gibt es einen Plan, was zu tun ist. Doch fast jeden Tag tauchen unerwartete Dinge auf, die angepackt werden müssen. So wird der Plan im Laufe des Tages angepasst, damit das Richtige zur richtigen Zeit richtig gemacht wird. Es ist die Führungsaufgabe der Vorgesetzten, 60 Prozent der Zeit gemeinsam mit den unterstellten Mitarbeitenden inhaltlich zu arbeiten und sie dabei auch weiterzuentwickeln. Innovation und Kreativität setzen voraus, dass Menschen mit Erfahrung und Wissen vor Ort zusammenkommen und miteinander arbeiten. Es braucht die direkte, offene Auseinandersetzung mit Fakten, unterschiedlicher Sichtweisen und die Überzeugungskraft des Arguments, um gute Lösungen zu erarbeiten und die richtigen Entscheidungen zu fällen.
Wenn Du nochmals vor dem Studienanfang stehen würdest. Welchen Rat würdest Du Dir geben?
Den Militärdienst zu absolvieren und weiterzumachen finde ich auch heute noch richtig. An keinem anderen Ort lernt man so viel über Menschen wie im Militär. Es sind alle Tag und Nacht zusammen, gleich angezogen und müssen das Gleiche tun. Man kann nicht durch Materielles ablenken, etwas übertünchen oder sich verstecken. Jeder sieht die wahre Persönlichkeit des anderen und seine Fähigkeiten. Die Menschen kommen aus verschiedenen Hintergründen und werden zugeteilt, ich kann sie mir nicht aussuchen. Ich muss die Menschen erkennen und nehmen, wie sie sind, mit dem was sie können. Es geht darum, diese für die richtige Teilaufgabe einzusetzen, so dass ihre Eigenschaften und Fähigkeiten zur Stärke werden. Macht man dies konsequent, erfährt man, dass man in der Summe als gesamte Mannschaft anspruchsvolle Aufgabe gemeinsam erfüllen kann. Das fördert den Respekt vor dem Anderssein und führt zur gegenseitigen Wertschätzung. Eine gute Mannschaft ist komplementär, aber trotzdem kompatibel.
Auch am Austauschjahr und Studium würde ich nichts ändern, da habe ich viel gelernt. Ich finde wichtig, dass, wenn man was macht, es immer richtig macht. Entweder lernt man theoretisch viel, was sich in guten Noten ausdrückt, oder man hat praktisch vieles gemacht, Erfahrung gesammelt und einiges übers Leben gelernt, was sich schliesslich in Menschenkenntnis und Realisierungsstärke zeigt. Beides zu tun ist sicher nicht falsch. Ob man über die Berufsausbildung kommt, sich praktisch oder im zweiten Bildungsweg weiterentwickelt oder den Studienweg wählt, und sich die Praxis nebenbei oder danach aneignet, spielt nicht so eine Rolle, Hauptsache man tut es. Es ist wichtig, sich aus Interesse für die Sache und nicht für den eigenen Lebenslauf oder das Geld alleine zu engagieren. Man kann aus jeder Situation etwas mitnehmen, wenn man es richtig macht.