Piero Martinoli: «Die ETH begleitete mich meine ganze Karriere».
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Piero Martinoli studierte und promovierte in Physik an der ETH Zürich. Der Tessiner arbeitete fast während seiner ganzen Karriere an der Universität Neuchâtel. Nach seiner Pensionierung wechselte er an die Università della Svizzera italiana und hat diese massgeblich weiterentwickelt. 2016 wurden seine Forschungsarbeiten zwei Mal in der Laudatio der Nobelpreisträger in Physik zitiert. In diesem Interview erzählt er, wie die ETH sich wie ein roter Faden in sein ganzes Leben gewoben hat.
Was wolltest Du als Kind werden?
Als Jugendlicher interessierte ich mich schon für Physik und Naturwissenschaften, obwohl ich eine klassische Mittelschule besuchte. Darum wechselte ich am Gymnasium auf die naturwissenschaftliche Schiene. Das ärgerte meinen Vater, da ich, wie er, Mediziner werden sollte.
Hast Du das nie bereut?
Nein, nie. Heute würde ich vermutlich wieder Physik studieren, aber mit einer anderen Spezialisierung. Heute würde ich zu Astrophysik, Kosmologie oder in eine ähnliche Richtung tendieren. Als ich von 1960 bis 1964 an der ETH studierte, sprach man schon vom Big Bang, aber man wusste nichts Genaueres. Das heisst, grundlegende Entdeckungen kamen erst nach meinem Studium.
Als ich 2006 die Stelle als Präsident (heute heisst es Rektor) der Università della Svizzera italiana (USI) in Lugano antrat, spürte ich ein grosses Manko in meiner Ausbildung. Ich hatte praktisch keine Kenntnisse in Astronomie, Kosmologie oder Astrophysik. In meiner Freizeit fing ich daher im Selbststudium an, das nachzuholen. Für mich ging eine neue Welt auf, die ich phantastisch finde. Heute würde ich also eines dieser Gebiete wählen.
Du hast an verschiedenen Universitäten in der Schweiz aber auch international gearbeitet. Wie bliebst Du mit der ETH verbunden?
Nach meiner Dissertation wurde ich in Amerika «Visiting Associate Professor» an den Ames Labs der Iowa State University. Eines Abends spielte ich mit dem jüngeren meiner zwei Kinder am Boden, stiess mich an einem Tisch, und das «Bulletin de l’Ambassade Suisse aux Etats-Unis» fiel herunter. Mir war diese Publikation vorher noch nie aufgefallen. Als ich darin blättere, stiess ich auf eine Annonce von einem freien Lehrstuhl an der Universität Neuchâtel.
Als ich mich bewarb, wurde dann schnell klar, dass es nichts war. Ich wollte etwas Neues machen, die Universität Neuchâtel hatte aber einen anderen Fokus. Also fing ich an, mich mit der Rückkehr an die ETH zu befassen. Dann plötzlich erhielt ich einen Brief vom Dekan der Fakultät in Neuchâtel: anscheinend wären Bewerber aus dem «Hause» bevorzugt behandelt worden. Deswegen traf der Fakultätsrat den mutigen Entscheid, mich doch zu berücksichtigen. Es gab dann Rekurse, und entgegen aller Erwartungen bekam ich die Stelle dann doch. Die ETH Verwaltung und mein Doktorvater, Prof. J.L. Olsen, dem ich immer sehr dankbar sein werde, zeigten sich damals sehr grosszügig. Ich hatte ja ein voll eingerichtetes Labor auf dem Hönggerberg gehabt. Dieses bekam ich als Leihgabe, so konnte ich dank der ETH meine Forschung in Neuchâtel relativ schnell wiederaufnehmen.
Es gefiel mir in Neuchâtel, aber in den ersten Jahren blieb ich als Privatdozent auch Lehrbeauftragter an der ETH Zürich und gab regelmässig Vorlesungen. So konnte ich einige gute Doktoranden von Zürich nach Neuchâtel holen. Einmal bekam ich einen Hinweis auf eine offene Stelle an der Universität Lausanne, deren Physikinstitut wechselte später zur EPFL. Ich war erst kurze Zeit in Neuchâtel und dankbar für deren Grosszügigkeit und Unterstützung. Ich entschied mich daher nicht zu bewerben. Diesen Entscheid bereute ich nie.
Nach Deinen vielen Wanderjahren bist Du nach Deiner Pension wieder zurück ins Tessin. Du hast mitgeholfen die USI aufzubauen. Willst Du mehr davon erzählen?
Als 1996 die USI startete gab es ungefähr 320 Studierende. Der damalige Präsident, Marco Baggiolini, überzeugte mich, dem Universitätsrat beizutreten, weshalb ich die USI schon vor meiner Pensionierung kannte. 2005 wurde mir dann überraschend die Stelle als Präsident der USI angeboten. Diese trat ich 2006 an.
Ehrlich gesagt fürchtete ich mich ein wenig vor der Pension. Ich hätte sicher ein Büro in Neuchâtel behalten können, aber ohne Forschunsgruppe. Insofern war das Angebot aus dem Tessin eine gute Gelegenheit. Wir wären sonst wohl in der Romandie geblieben, wir hatten da unseren Bekanntenkreis. Jetzt wohnen wir aber in dem Dorf, das wohl die meisten Sonnenstunden in der ganzen Schweiz hat.
Auch im Tessin hatte ich Kontaktpunkte mit der ETH: Diese verwaltet das «Centro Svizzero di Calcolo Scientifico» (CSCS), das nationale Supercomputing Center. Die Räumlichkeiten in Manno (TI) waren ungeeignet, um eine Aufwertung durchzuführen. Es gab daher Überlegungen, das Center nach Zürich zu verlegen. Ich wollte es im Tessin behalten, darum gründeten wir an der USI ein Institut für Computational Science. Ich kannte den damaligen Präsidenten der ETH, Ralph Eichler, sehr gut. Er holte mich in seine Steuergruppe, um diesen Bereich national aufzubauen. Der Entscheid fiel dann doch wieder für das Tessin. Das Institut wächst gut, es hat nun neun Professuren. Sie erhalten auch Unterstützung durch die angesehenen European Research Grants. Ich bin also sehr zufrieden.
Zusätzlich wollte ich, mit einer Gruppe von begeisterten Kollegen, noch ein Masterstudium in der Medizin anbieten. Meine Überlegung dazu war, dass nur 30 % der Mediziner, welche ihre Arbeit in der Schweiz aufnehmen, auch hier ausgebildet wurden. Das wollte ich ändern. Wir hatten keine naturwissenschaftliche Fakultät, aber wir konnten die klinischen Jahre der Ausbildung anbieten. Dafür brauchten wir aber einen «Verbündeten» für die Bachelor-Ausbildung.
Also kontaktierten wir alle Universitäten der Schweiz, nur Basel war interessiert. Ich präsentierte das Projekt an der Rektorenkonferenz, die Reaktionen waren auch nicht berauschend. Da kam mir wieder die ETH in der Person von Ralph Eichler zu Hilfe. Er bot seine Zusammenarbeit an, die dann von seinem Nachfolger, Lino Guzzella, konkretisiert wurde. Um das zu bewerkstelligen, musste sogar das ETH Gesetz geändert werden. Heute bietet die ETH ein Bachelor in Medizin an, und ab 2020 wird die USI das Masterstudium anbieten. Die Universität Basel wird auch einige Studierende ins Tessin schicken, und auch die Universität Zürich hat in der Zwischenzeit Interesse geäussert. Ohne die ETH und ihre weitsichtigen Präsidenten hätte das aber nie geklappt. Ende August 2016 trat ich dann als Präsident der USI definitiv zurück.
2016 wurde Deine Arbeit in der Laudatio vom Nobelpreisträger für Physik erwähnt. Was war das für ein Gefühl?
Ich wusste, dass unsere Arbeiten international viel Anerkennung erhalten hatten und oft zitiert wurden. Joël Mesot, der heutige ETH Präsident, war damals Direktor des PSI. Er schickte mir ein Mail, um mich zu informieren, dass zwei unserer Arbeiten zitiert worden waren. Die Preisträger waren mir ein Begriff, wir hatten Experimente, um ihre Theorie zu prüfen, durchgeführt. Und es freute mich, dass «mein» Gebiet geehrt wurde. Diese Zitate waren eine schöne Überraschung und eine erfreuliche Bestätigung am Ende meiner Berufskarriere.
Seit November 2019 bist Du Ehrenmitglied der ETH Alumni. Was bedeutet Dir das?
Als die Ortsgruppe Tessin mich vorschlug, war es eine schöne Anerkennung. Die ETH begleitete mich meine ganze Karriere, obwohl ich länger in Neuchâtel tätig war.
Hast Du an die Studierenden von heute einen Ratschlag?
Ich gebe nie Ratschläge, alle müssen ihre Eigenverantwortung selber entwickeln. Wenn ich aber einen geben soll: Man muss hart arbeiten und auch etwas ausserhalb der Trends wagen. Beispielsweise sind Computer sehr nützlich, aber manchmal hilft es, mit einem Bleistift etwas zu skizzieren. Ziele sind wichtig und manchmal lohnt es sich ein kalkulierbares Risiko einzugehen.
Um die ETH abzuschliessen, muss man natürlich intellektuelle Fähigkeiten haben und motiviert sein. Auch wenn man gut und talentiert ist, braucht man trotzdem grosses Durchhaltevermögen. So erreicht man Ziele. Aber es braucht auch eine Portion Glück, und ich war ja ein Glückspilz.